Derzeit schreibe ich an meinem ersten Buch zur Arbeit in Kindertagesstätten. Hier eine Lesepobe:
Veränderte Kindheit
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen der Kindheit vor 30 oder 40 Jahren und heute? Ich möchte das an dieser Stelle nicht tief greifend behandeln, das haben andere besser und wissenschaftlicher gemacht. Mein Blick gilt dem Alltäglichen das wir in den Kindertagesstätten feststellen.
Die erste Auffälligkeit ist: Es gibt immer weniger Kinder! Kinder sind in der Minderheit, sie werden nicht mehr als Selbstverständlichkeit hingenommen und immer mehr zu Aussenseitern in unserer Gesellschaft.
Früher nahmen die Kinder ganz selbstverständlich an der Welt der Erwachsenen teil. Sie waren einfach da. Heute sind sie in altershomogenen Gruppen in für sie gemachte „Sonderwelten“ untergebracht, und damit institutionalisiert. Ein Ziel in der Erziehungsarbeit in Kindertagesstätten und Schulen ist das „Kennenlernen der Erwachsenenwelt“.
Die Erwachsenenwelt wird nicht von den Kindern selbstständig erfahren, sondern von den Erwachsenen organisiert. Sie bestimmen was die Kinder erleben und lernen sollen. Sie fahren die Kinder von einer künstlichen Erlebniswelt in die andere. Alles Lernen und Bilden ist pädagogisch besetzt. Die Kinder sind ständig beobachtet, haben kaum noch Frei- und Forschungsräume um ihre Erfahrungen selbst machen zu können. So schränkt sich der autonome Gestaltungsraum der Kinder – nicht nur durch die veränderten Lebensraum in den Städten – immer mehr ein.
Kindheit wird zu einem großen“All-inclusiv-Hotel“, das jedes eigenen Denken und Handeln verhindert.
Während die Großeltern unserer Kinder (und teilweise wir selbst) ihre Umwelt Schritt für Schritt, je älter sie wurden in einem immer größer werdenden Radius,selbst erforschten, haben Kinder heute kaum noch Gelegenheit zum unbeobachteten Spiel. Damals wurde die Welt ganz nebenbei erlebt und erfahren: Vogelstimmen zugeordnet, jahreszeitliche Veränderungen erfahren, Tätigkeiten im Haushalt gelernt, Verantwortung übernommen, geklettert, in Bäche gefallen und den eigenen Eltern und denen der Freunde bei ihrer Arbeit zu geschaut und, und, und…. Wer lässt heute noch sein 5 jähriges Kind alleine auf dem nahe gelegenen Feld, in den Wald gegenüber oder auf den Spielplatz im nächsten Block?
Kinder lernten früher durch das eigene Erleben, Erfahren . Sie lernen durch aktives Handeln. Auch der soziale Umgang miteinander wurde ganz selbstverständlich durch das gemeinsame Spielen, Streiten und sich Vertragen mit den Nachbarskindern geübt. Die Kinder redeten miteinander und hatten so eine natürliche Spracherziehung.
Kinder lernen ganzheitlich, d.h. mit allen Sinnen erfahren und begreifen sie ihre Welt. Heute jedoch kommt die Bildung aus der Konserve. Vorgefertigtes Spielzeug anstatt Sachen zum Spielen, konstruieren und Forschen; ferngesteuerte Autos und Puppen, Rollenspiele als Erfahrungsverarbeitung von Fernsehsendungen und Memory aus dem Computer. Eine Blume oder ein Bach die im Bilderbuch oder Fernsehen angesehen werden kann ein Kind nicht riechen und fühlen.
Eine gravierende Veränderung der Kindheit begründet sich auch im Wandel der Erziehungsstile. Die traditionelle Familie, war bis vor einigen Jahrzehnten von Machtstrukturen nach dem Motto der Vater hat das Sagen, dann kommt die Mutter und die Kinder stehen am Ende der Hierarchie – geprägt.
Die Erziehung zu Gehorsam, Ordnung, Pflichtgefühl und Patriotismus standen im Mittelpunkt. Diese Ziele und Stile haben – Gott sei Dank – ausgedient. Sie können so nicht mehr als Vorbild und Maßstäbe heutiger Erziehung dienen. Wir sind auf der suche nach neuen, konstruktiven Formen des Zusammenlebens.
Im Umgang mit Kindern greifen Eltern (und auch Erzieherinnen) auf eigenen Erfahrungen als Kind mit den Eltern und anderen Erwachsenen zurück. Das geschieht manchmal ganz bewusst, „So möchte ich das nie machen!“, aber meistens passiert es ganz unbewusst.
Die klassische Familie gibt es nicht mehr! Der altbekannte Erziehungsstil wie oben genannt auch nicht! Was kommt jetzt?
Eltern sind verunsichert und auf der Suche nach neuen, konstruktiven Formen des Zusammenlebens.In den letzten Jahren schnellen die Verkaufszahlen von Erziehungsratgebern in die Höhe. „In den letzten fünfzehn Jahren wurde die Erziehungsdebatte dermaßen vom „Setzen von Grenzen“ dominiert, dass man den Eindruck gewinnen könnte, dies sei der Dreh- und Angelpunkt im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.“1
Klarheit und Eindeutigkeit werden meist mit Härte und Autorität verwechselt. Elterntrauen ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen nicht mehr. Wenn ich weiß was ich will, wenn ich mein Kind liebe und ihm genauso wie mir selbst gut tun möchte, hat Unsicherheit keine Chance.
Doch das scheint Eltern abhanden gekommen zu sein und diese Klarheit fordern sie nun von Kindertagesstätten.
1Jesper Juul: Nein aus Liebe; Klare Eltern – Starke Kinder